Labore der Demokratie

Zwei Kleinstädte erproben Bürger*innenräte mit einem innovativen Losverfahren. Ihre Bürger*innenmeister sprechen über die Herausforderungen und die Chancen des Projektes.

„Man kann Politik nicht mehr ohne Öffnung und Beteiligung betreiben“, sagt Marian Schreier. Der Sozialdemokrat, der 2015 in Tengen zum jüngsten Bürger*innenmeister Baden-Württembergs gewählt wurde, ist ein Verfechter des Open Governments. Der Begriff bezeichnet eine Reihe von Prinzipien der offenen Gestaltung politischer Prozesse, darunter Informationsfreiheit und der Einsatz von webbasierten Tools. Im Mittelpunkt stehen neue Verfahren der Bürger*innenbeteiligung, sowohl digital als auch analog. Schreier ist überzeugt: „Ohne Beteiligung übersieht man wichtige Perspektiven und es ist schwieriger, Legitimation für politisches Handeln zu stiften.”

Tengen gehört zu einem von dreizehn über Deutschland verteilten regionalen Open Government Laboren, die vom Bundesinnenministerium gefördert werden. Auch die Stadt Brandis in Sachsen ist Teil eines solchen Labors. Ihren Bürger*innenmeister Arno Jesse hatte Schreier in einem vorherigen Open-Government-Projekt kennengelernt. 2021 standen die beiden Kommunen vor einem ähnlichen Vorhaben: Sie wollten das Leitbild der Stadt überarbeiten und zu diesem Zweck eine neue Art der Bürger*innenbeteiligung erproben. Über den Hackathon “Update Deutschland” unter Schirmherrschaft des Bundeskanzler*innenamts im letzten Jahr kamen sie mit Es geht LOS ins Gespräch und entschlossen sich, in einem gemeinsamen Projekt ihre Leitbilder mithilfe unterschiedlicher Beteiligungsformate zu aktualisieren. Das Kernstück war der geloste Bürger*innenrat.

Das Aufsuchende Losverfahren

Im Februar verschickte Es geht LOS zusammen mit der Gemeinde die ersten Einladungsbriefe. Das Besondere am Verfahren von Es geht LOS ist, dass das Anschreiben nur der erste Schritt der Kontaktaufnahme ist. Nach einem Erinnerungsschreiben werden diejenigen, die sich nicht zurückgemeldet haben, zuhause besucht. „Das hat richtig Mühe gemacht, wie Klingelputzen im Wahlkampf“, sagt Arno Jesse. In Brandis konnten auf diese Weise sechs Personen überzeugt werden, an dem Bürger*innenrat teilzunehmen. Jesse erzählt von einem ausgelosten Mann, den er in einem Sozialbau-Viertel besucht hat. Er habe nicht damit gerechnet, dass er zusagt, doch am Ende sei er gekommen und habe sehr erfrischende Perspektiven in die Diskussion eingebracht.

Im März fanden dann im Abstand von einer Woche die beiden Bürger*innenräte in Tengen und Brandis statt. An je einem Samstag kamen die Gelosten für sieben Stunden zusammen und setzten sich mit dem Leitbild auseinander. In einer Mischung aus gelosten Kleingruppen und Gesprächen im Plenum diskutierten sie die verschiedenen Themenbereiche und brachten neue Ideen ein. Am Ende hatten alle gemeinsam die Möglichkeit, die Maßnahmenvorschläge zu priorisieren. Die daraus entstandene Liste wurde an die Bürger*innenmeister übergeben und später im Stadtrat vorgestellt.

Ein neuer Politikstil

Für Marian Schreier ist Open Government Ausdruck eines modernen Politikstils. „In der digitalisierten Welt muss auch Politik viel vernetzter funktionieren“, sagt er. Für die Überarbeitung des Leitbildes wurden neben dem gelosten Rat verschiedene Beteiligungsformate kombiniert. Online konnten Bürger*innen über die Beteiligungsplattformen Adhocracy+ in Tengen und Parthecloud in Brandis Kommentare zu den einzelnen Themenbereichen des Leitbildes verfassen und Vorschläge einbringen. Zusätzlich gab es jeweils eine Dialogveranstaltung in den Städten, an der alle Interessierten teilnehmen konnten. Diese breit angelegte Art der Partizipation schafft Verständnis für politische Maßnahmen und stärkt ihre Legitimität, so Schreier. Allerdings werde die Macht der Entscheidung zu keiner Zeit verlagert, sondern nur der Weg zur Entscheidung anders gestaltet. Es sei wichtig, dass allen Beteiligten von vornherein bewusst ist, dass sich der Rat nur innerhalb der Spielregeln der repräsentativen Demokratie bewegt. Welche der eingebrachten Vorschläge umgesetzt werden, entscheidet immer noch der Gemeinderat. Wenn er allerdings bestimmte Maßnahmen nicht umsetzt, muss er diese Entscheidung natürlich begründen und transparent machen, wie die Ergebnisse aus der Beteiligung in den Entscheidungsprozess eingeflossen sind.

Für Arno Jesse spielt neben den vielfältigen Perspektiven auch die Befähigung der Teilnehmenden eine Rolle. Es sei schon viel gewonnen, wenn die 24 Teilnehmenden in Brandis danach ein besseres Verständnis für die politischen Prozesse in der Stadt hätten. Zum Beispiel beim Thema Öffentlicher Nahverkehr: „Der ÖPNV ist sehr komplex und diese Komplexität sehen die Bürger häufig nicht.“ Weil die Finanzierung über den Landkreis läuft, hat die Verwaltung in Brandis keinen direkten Einfluss darauf, ob eine zusätzliche Bushaltestelle gebaut wird. Im Rat bekommen die Teilnehmenden einen Einblick in Entscheidungswege und Zuständigkeiten.

Was tun mit Rechten?

Was sind die Voraussetzungen für Open Government? Kann der Ansatz nur funktionieren, wenn es wenig Kontroversen gibt? Schreier sieht das nicht so. Als Beispiel nennt er die Diskussion um den Bau eines Windparks in Tengen, die 2020 in einen Bürgerentscheid mündete. Durch einen breiten Dialogprozess waren am Ende gut zwei Drittel der Tengener*innen für die Errichtung der Anlage. Heute ist das politische Klima jedoch entspannter. „Es gibt keine wirklich kontroversen Themen in der Kommunalpolitik“, erklärt Schreier, „das allermeiste hat mich in der Diskussion nicht überrascht.“ Eines der wenigen Themen, die doch kontroverser diskutiert wurden, war der Bau eines Kunstrasenplatzes. Im Bürger*innenrat legte Schreier vor den Teilnehmenden dar, wie viel Anschaffung und Pflege eines echten Rasens im Vergleich zu einem etwas preiswerteren Kunstrasen kosten würde. Gerade diese Art des Austauschs kann Verständnis schaffen und das Konfliktpotenzial von politischen Entscheidungen entschärfen.

Das politische Klima in Brandis ist ein anderes als in Tengen. Die AfD hält hier fünf Sitze im Stadtrat und bei der letzten Bürgermeisterwahl erhielt ein AfD-naher Kandidat gut 30 Prozent der Stimmen. Was wäre passiert, wenn das Los für den Bürger*innenrat zum Beispiel auf einen Rechtsextremen gefallen wäre? „Man hätte damit umgehen müssen“, meint Arno Jesse. Er hält es dennoch für unwahrscheinlich, dass eine einzelne Person vorsätzlich den gesamten Raum hätte dominieren können.

Auch wenn das Szenario nicht eingetreten ist – das Risiko bleibt. Falls Rechte in einen Bürger*innenrat gelost werden, kann von den Teilnehmenden nicht erwartet werden, dass sie sich mit deren rassistischen oder antifeministischen Positionen auseinandersetzen. Der Rat soll ein Abbild der Stadtgesellschaft sein. Diese besteht aber nur im Politiksprech aus freien und gleichen Bürger*innen. In der Realität verhindern strukturelle Ungleichheiten, dass alle denselben Zugang zu politischen Räumen haben. Auch in einem Bürger*innenrat besteht die Möglichkeit, dass diskriminierende Äußerungen den Raum für manche Menschen unsicher machen. Es geht LOS legt deswegen großen Wert auf eine erfahrene Moderation, die mit inklusiven Techniken auf verschiedene Situationen reagieren kann.

Das Los soll Diversität schaffen

Diversität wird beim Bürger*innenrat großgeschrieben, denn schließlich ist eines der wichtigsten Ziele, möglichst viele Perspektiven zu versammeln. Sie soll durch ein vielschichtiges Losverfahren gewährleistet werden, das Alter, Geschlecht und die verschiedenen Stadtteile berücksichtigt. In Brandis ist die Zusammensetzung des Bürger*innenrates deutlich weiblicher und jünger als die des Stadtrats. Der besteht vor allem aus Alteingesessenen, die größtenteils in der Kernstadt wohnen. Bei beiden Bürger*innenräten waren außerdem einige Neubürger*innen dabei, die sonst schwerer für Beteiligungsverfahren zu gewinnen sind.

Ist Bürger*innenbeteiligung eine Kostenfrage? „Das ist nicht super teuer“, meint Schreier. „Für eine Stadtentwicklungsstrategie zum Beispiel sollten sich immer Gelder für Beteiligung im Haushalt finden lassen.“ Das ist vor allem eine Frage der Priorisierung. Aufwändigere Beteiligungsformate brauchen dagegen mehr Kapazitäten und müssen neben den Pflichtaufgaben der kommunalen Verwaltungen stattfinden, die bereits viele Ressourcen binden. Während Großstädte meist eine Beteiligungssatzung haben, kommt es in kleineren Städten eher auf einzelne praktische Formate an, erklärt Jesse. Im Landkreis Leipzig, wo Brandis liegt, ist Großpösna die einzige kleinere Kommune mit einer solchen Satzung. Der Bürger*innenrat wäre in Tengen und Brandis ohne die Förderung durch den Bund nicht möglich gewesen. In beiden Städten waren es die Bürger*innenmeister, die das Projekt initiiert haben. Von Seite der Stadt aus haben vor allem sie gemeinsam mit dem Team von Es geht LOS das Projekt organisiert, während die Verwaltungsmitarbeiter*innen dafür nur begrenzte Kapazitäten haben. Die Beteiligung steht und fällt mit dem Engagement der Verwaltungsspitze. Durch die Fördergelder war es möglich, dass Es geht LOS einen großen Teil der Koordinationsarbeit geleistet hat. Ein Ziel des Vereins ist aber auch, Wissen an die Verwaltung zu vermitteln, sodass die Städte in Zukunft ähnliche Beteiligungsverfahren auch selbst effizienter durchführen können.

Im Rückblick sind Schreier und Jesse sich einig: Der Aufwand hat sich gelohnt. Beide waren von der sehr konstruktiven und offenen Gesprächsatmosphäre beim Rat überrascht. Auch wenn insgesamt weniger Menschen beteiligt waren als bei der Erarbeitung des Leitbildes vor sechs Jahren, war die Qualität der Diskussion extrem hoch, findet Schreier. Für Jesse war der Bürger*innenrat ein hoffnungsstiftender Tag, weil einige Bürger*innen ein Stück Vertrauen in die politischen Prozesse gewonnen haben. Solche neuen Formate braucht es auch in Zukunft, ist er überzeugt: „Sonst ist das keine Demokratie.“

Yann Schmidt

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